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AVIVA-BERLIN.de 9/19/5784 - Beitrag vom 21.06.2006


Bar Mitzwa
Elisa Klapheck

Wir feiern die Bar Mitzwa eines unserer Gemeindemitglieder. Einen Moment werde ich nicht mehr vergessen. Ein Beitrag von Rabbinerin Elisa Klapheck




Der Junge ist gerade zum ersten Mal in seinem Leben zur Tora aufgerufen worden. Ich weiß, wie nervös er ist. Ein Jahr lang hat er sich auf diesen Moment vorbereiten müssen. Er hat gelernt, hebräisch zu lesen, seinen Abschnitt in der Tora zu singen und ihn im Anschluss auszulegen. Allein geht er nun nach vorne zur Bima, wo die aufgerollte Tora-Rolle auf ihn wartet. Alle Blicke sind auf den Halbwüchsigen gerichtet. Er trägt eine neue schwarze Hose und ein neues weißes Hemd, dazu die Turnschuhe, in denen er sich am liebsten unter seinen Freunden bewegt.

Da kommt plötzlich sein Vater, ein hochgewachsener Mann, von der Seite zur Bima und legt im letzten Moment, bevor der Junge den Segen über das Tora-Lesen sagt, einen Tallit, einen Gebetsschal, um die Schultern seines Sohnes. Der Tallit ist der gleiche, den der Vater trägt - ein großes weißes Stück Stoff mit blauen Steifen. Der Moment geschieht ganz schnell - der Vater hüllt seinen Sohn einmal ganz in den Tallit, als würde er sein Kind damit noch einmal ganz umarmen und küssen. Die Hände des Vaters fassen fest nach den Schultern des Knaben, als würden sie ihm jetzt alles Selbstvertrauen einflößen wollen, welches der Junge nicht nur in diesem Moment, sondern auf dem ganzen, noch vor ihm liegenden Weg, erwachsen zu werden, brauchen wird.

Der Junge beginnt zu lesen. Der neue Tallit ist deutlich zu groß, die Enden des Stoffes berühren den Boden. Der Kleine wird in den nächsten Jahren erst noch in seinen Tallit hineinwachsen müssen. Sein Vater kann sich nicht losreißen. Er bleibt hinter seinem Sohn stehen - leicht zur Tora hingebeugt und mitlesend, dabei weiterhin Kraft und Selbstvertrauen spendend, doch zugleich genügend Abstand wahrend, so dass der Junge es allein tut, ohne väterliche Beeinflussung, ohne Hilfe von einem Anderen.
Vater und Sohn - wie stark ist dieses Bild von zwei Generationen, von einem Vater, der seinem Sohn ohne Worte, aber doch in seiner ganzen Gestik bedeutet: "Das wirst du schaffen." Es ist möglicherweise der stärkste Ausdruck von Männlichkeit, den es gibt. Kein autoritärer Patriarch, der seinen Sohn kontrolliert und sich selbst in diesem wieder erkennen will, sondern ein Vater, der seinem Sohn den vollen Segen gibt, es selbst zu schaffen - und von jetzt an seinen eigenen Weg zu gehen.
Am Nachmittag sehe ich zufällig Rembrandts Gemälde von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern wollte. Auch hier ein Vater und ein Sohn. Doch welche andere Beziehung zwischen diesen beiden. Ein Vater, der seinem Sohn nichts weitergibt, sondern vielmehr sich selbst einem höheren Ideal unterworfen hat, welches das Leben seines Kindes fordert. Ich frage mich plötzlich, ob die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Abraham und Isaak, tatsächlich durch die biblische Erzählung überwunden ist. Ist sie nicht vielmehr in tausendfachen Variationen immer, also auch heute zwischen Vätern und Söhnen gegenwärtig? Wie vielen Vätern gelingt es, sich von der Versuchung zu emanzipieren, ihren Sohn für die eigenen Ideale zu opfern. Ich frage mich, ob nicht jeder jüdische Vater mit jeder Bar Mitzwa wieder vor der Herausforderung steht, seinen Sohn mit dem Vertrauen zu segnen, dass dieser es schaffen und den richtigen, nämlich den eigenen Weg gehen wird.

Dieser Vater hat es mir mit diesem Moment gezeigt: Eine Bar Mitzwa ist nicht nur ein großer Moment im Leben eines heranwachsenden Jungen - genauso feiert sie den Moment, in dem der Vater ein Stück Autorität abgibt, darauf vertrauend, dass sein Sohn diese von jetzt an selber auf sich nehmen kann.

Mehr zu Rabbinerin Elisa Klapheck im Interview mit AVIVA-Berlin von 2004.

Lesen Sie auch mehr über Elisa Klaphecks Buch So bin ich Rabbinerin geworden.

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Beitrag vom 21.06.2006

AVIVA-Redaktion